Zeitzeugin Marianne Wilke zu Besuch am WoBo

„Die Nazis haben uns zu Juden gemacht“  – „Seid niemals gleichgültig!“

 – Zeitzeugin Marianne Wilke am 18. Jan. 2022 zu Besuch am WoBo

Auf Einladung von Claudia Eisert-Hilbert hat sich der gesamte Abiturjahrgang in der Aula versammelt, es herrscht erwartungsvolle Stille. Auf der Bühne sitzt die 92-jährige Marianne Wilke und beginnt, von ihren Erfahrungen aus der NS-Zeit zu berichten. Sie war erst vier Jahre alt, als Hitler an die Macht kam, und zehn, als Deutschland Polen überfiel.
„Als ich sechs Jahre alt war, spielte ich draußen mit meinem Bruder. Ein Junge kam zu uns und rief: ‚Meine Mutter sagt, ihr seid Juden!‘ Danach rannte er weg. Mein Bruder und ich waren perplex.“ Denn Marianne Wilke und ihr Bruder wussten gar nicht, was Juden sind. Obwohl sich ihre Familie nicht als religiös empfand, galt sie seit der Machtübernahme der Nationalsozialisten und in deren Kategorien als „Halbjüdin“.
Marianne Wilkes Erzählung über ihre Schulzeit klingt für die lauschenden Schüler/innen unvorstellbar und schockierend, obwohl sie von Geschehnissen erzählt, welche vor weniger als hundert Jahre in demselben Gebäude hätten passieren können.
Statt in Geographie über verschiedene Länder und deren Kulturen zu erfahren, unterschied man in ihrer Zeit nur zwischen deutschfreundlichen und deutschfeindlichen Ländern; statt in Deutsch Gedichte über die Aufklärung zu analysieren, befasste man sich mit propagandistischen Gedichten Hitlers bzw. seiner Gesinnungsgenossen; statt in Biologie die Blutgruppen in A, B, 0 und AB zu unterteilen, wurden sie in deutsches und nicht-deutsches Blut unterteilt, und in Sport wurde den Schülern statt Kugelstoßen schon früh Granatenweitwurf beigebracht.
Des Weiteren fällt beim Zuhören des Berichts von Frau Wilke auf, wie weit sich die NS-Ideologie mit der Zeit im Alltag durchgesetzt hat.
Anfangs durften immer weniger Kinder mit ihr und ihrem Bruder spielen, es wurde Abstand gehalten und Marianne Wilke beschreibt eine „Glaswand“, die zwischen ihr und ihren Freundinnen herrschte. Kurz darauf durfte sie den Park, in welchem sie mit ihrem Bruder oft Zeit verbracht hatte, nicht mehr besuchen und auch die Parkbänke waren beschriftet mit „Für Juden verboten“.
Ab 1939 wurden die Lebensmittelkarten ihrer Familie mit einem großen „J“, für Jude, beschriftet, was dazu führte, dass sie oftmals abgewiesen wurde von Ladenbesitzern mit den Worten „Wir verkaufen nicht an Juden“.
Viele der anwesenden Zwölftklässler/innen können Ihre Fragen direkt an Frau Wilke richten. Sie antwortet geduldig und anschaulich, hält Gesetzestexte, Verordnungen und Zeitdokumente wie Lebensmittelkarten und fürs Aufnähen bestimmte „Judensterne“ bereit.
Was die immer noch lauschenden Schüler/innen erschrickt, sind die vielen Einschränkungen im Alltag: Der Vater durfte nicht mehr mit den öffentlichen Verkehrsmitteln zur Arbeit fahren, er musste sein Fahrrad abgeben und die Familie durfte kein Radio, erst recht keine Schreibmaschine mehr besitzen.
Doch was motiviert Marianne Wilke, als Zeitzeugin von diesen schrecklichen Ereignissen immer wieder erneut zu berichten, obwohl die NS-Zeit sie ihrer Kindheit, Freunde und Familie beraubte?
Eine wichtige Lehre, welche sie den Schüler/innen aufs Neue mitgibt: „Alle Menschen sind gleich in ihrer Würde und in ihrem Wert.“

Vivienne Dunker, Mana Sadeghi – Schülerinnen der Q2b

Link zum Bericht des Hamburger Abenblatts vom 18.01.22


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